Dies ist der Roman einer Kreuzfahrt auf dem gewaltigen Dnjepr, und trotz der Erinnerung an den II. Weltkrieg, die ihn leitmotivisch durchzieht, ist er vergnüglich und lehrreich, denn das Land, das er vorstellt, die Ukraine, entfaltet sich als uralte Kulturlandschaft, Wiege der Rus, Tummelfeld der Kosaken, griechische Kolonie, Schwarzmeermetropole, Vorzeigeobjekt Katharinas der Großen und der Krim als touristischem Höhepunkt, wo schon die Goten siedelten, die tartarischen Chrane Gartenpaläste anlegten, die Zaren ihre Sommerresidenz unterhielten und einige Dichter die russische Literatur mit unsterblichen Versen und Texten bereicherten. Die Revue touristischer Glanzpunkte hellt den düsteren Hintergrund der Erzählung auf.

Als ich diesen Roman 2012 veröffentlichte, schien der Ukraine eine glücklichere Zukunft bevorzustehen, als es ihre Vergangenheit war. 1991 war die ehemalige Sowjetrepublik unabhängig geworden und hatte sich seither um die Entwicklung einer nationalen Identität bemüht, die Ukrainer jeder Herkunft einschließen sollte, da die Sprachen das bilinguale Land mehr trennten als vereinten. Meine Reisebeschreibung aus dem Jahr 2003 beobachtete den kulturellen Selbstfindungsprozess und registrierte die Vorzeichen der "Orangenen Revolution". Die das gewählte Parlament nach wie vor beherrschenden Oligarchen hatten versprochen, das Verhältnis zwischen EU und Russland auszubalancieren. Im Jahr 2012 arbeitete die russischfreundliche Fraktion jedoch längst Moskau zu. Rechtsnationale Bewegungen, die nicht grundlos faschistisch genannt wurden, gab es nun auch. Mein Titel "Borysthenes", der an die antiken Wurzelns des Landes erinnern soll, war in einer Zeit des Aufbruchs erschienen, in der die Erinnerung an den 2. Weltkrieg in der Ukraine wie zugeschüttet war. Niemand wollte in diesem Moment des Aufbruchs an die Folgen des Ersten Weltkriegs erinnert werden, der die Welt in einen Zweiten gestürzt hatte, jeder wollte lieber daran glauben, dass sich das Inferno nicht ein Drittes Mal wiederholen würde. Und jetzt? Niemand will das, innerhalb von drei Generationen, noch einmal erleben.

Als die Deutschen am 22. Juni 1941 Russland den Krieg aufzwangen, wurde die ganze SSR Ukraine zum Kriegsschauplatz. Das Unternehmen Barbarossa war in Wirklichkeit ein Vernichtungskrieg, der sich offen gegen die jüdische und versteckt gegen die slawische Bevölkerung der Ukraine richtete, deren "Lebensraum" freigemacht werden sollte für die Expansion der germanischen Rasse. Doch nicht um die historiografische Rekonstruktion des Feldzugs Barbarossa geht es, sondern darum, in welcher Form er sich aus den kommunikativen, auf Zeugenaussagen beruhenden Erinnerungen der Zeitgenossen zum kollektiven nationalen Gedächtnis verdichtet hat. Melanie, das alter ego der Autorin, schifft sich 2003 auf einer der von Thomas Cook angebotenen Dnjepr-Kreuzfahrten ein, die nach dem Krieg vorzugsweise von Deutschen gebucht wurden. In den 60er/70er-Jahren dürften sich darunter noch zahlreiche ehemalige Kriegsteilnehmer befunden haben, die sich über unmittelbar Erlebtes austauschen konnten. Die meisten sind inzwischen gestorben, aber die Passagiere wurden nicht weniger: Enkel und Urenkel machten sich nun auf den Weg zu den Stätten der Kriegsgräberfürsorge. Melanie befragte ihre Mitpassagiere: "Wie stehen Sie heute zu Ihrem Vater, Großvater, Onkel?" Melanie ist keine neutrale Beobachterin. Sie spürt dem transgenerationalen Trauma nach, das sie selbst belastet. Es stellt sich heraus, dass die Kinder der Kriegsteilnehmer die - oft nur erahnte - Schuld der Väter selbstbestrafend verinnerlicht haben.

About the Author: Sybil Wagener, geboren in Nürnberg, Autorin und Regisseurin, lebt in Berlin.