Bildungs- und Kulturgeschichte sind eng miteinander verbunden und beziehen beide Inspiration aus der Sozial- und Kulturanthropologie. Im 19. Jahrhundert war "Kultur" eng mit der Konstruktion der mächtigen Nationalstaaten und großen Imperien verbunden, die u.a. auch nach kultureller Vorherrschaft strebten. "Kultur" wurde die Rolle zugeschrieben, die allumfassende Macht der herrschenden Elite zu verkörpern und eine wertstiftende, säkular-religiöse Funktion innerhalb eines national(istisch)en Referenzrahmens zu übernehmen. Im ausgehenden 19. Jahrhundert haben die Kulturwissenschaften auf internationaler Ebene allerdings begonnen, die Definition von Kultur immer mehr auszuweiten. In der Folge umfasste der Begriff der Kultur auch Themen wie die Traditionen, Lebensweisen und Mentalitäten verschiedener Bevölkerungsschichten und sozialer Gruppen, den Zusammenhang zwischen Kultur und Gesellschaft, materielle Kultur und die symbolische Bedeutung von Alltagsgegenständen, die Sphäre der Produktion, Technologie, Konsum, Geschmack und Lebensstile, populäre Kultur und Massenmedien und die Vermittlung und Inkorporation von Kultur durch Erziehung und Bildung. Der Fokus lag auf einem kollektiven Dazwischen jenseits der subjektiven Ebene und der Frage, wie Kultur gemacht, mediatisiert, verkörpert, handelnd hergestellt und sozial relevant wurde.
Die neue Kulturgeschichte der Bildung und Erziehung geht davon aus, dass Kultur nicht objektiv und eindeutig festgelegt und definiert werden kann, sondern durch die interpretierende und vermittelnde Aktivität von Individuen und sozialen Gruppen gestaltet wird, die innerhalb bestimmter historischer Kontexte agieren. Die neue Kulturgeschichte betont die Dynamik und partielle Unbestimmtheit des sozialen und kulturellen Lebens; Strukturen werden als prinzipiell veränderbare Orientierungsrahmen und Machtfelder wahrgenommen.
Die Kulturgeschichte der Erziehung und Bildung stützt sich auf neue bzw. bislang ignorierte oder vernachlässigte Quellen wie bspw. demografische Daten und Egodokumente (z. B. Familienbriefe) und literarische, propagandistische und visuelle Quellen unterschiedlichster Provenienz (z.B. fotografische Alben und Filme). Dazu gehören auch materielle Relikte wie Kleidung, religiöse Artefakte, Kinderspielzeug und -literatur, Lehrmaterialien, Schularchitektur, Möbel, Nahrungsmittel, medizinische Instrumente, Testapparaturen, Verwaltungsformulare und Alltagsgegenstände. Eine weitere Besonderheit der Kulturgeschichte der Erziehung und Bildung ist die Einbeziehung der Oral History sowie ein Fokus auf die Geschichte der Sinne, der Gefühle, der Medien- sowie der Technikgeschichte. Dies impliziert eine breitere Sicht auf Erziehung und Bildung (Beispiele sind die Geschichte von Kindheit, Jugend, Familie und Geschlecht, die Geschichte der Sexualität, die Geschichte pädagogischer Technologien, die Geschichte humanitärer Interventionen und sozialer Reformen, usw.) und eine Ausweitung traditioneller Ereignis- und Epochengliederungen, die sich wiederum oft an der politischen Geschichte orientieren. Insofern zielt die Kulturgeschichte der Erziehung und Bildung darauf ab, etablierte Metanarrative kritisch zu hinterfragen, lokale, regionale und transnationale Perspektiven auf Kultur, Gesellschaft und Bildung miteinander zu verknüpfen, neue historische Quellen zu erschließen und alle Ebenen der kulturellen Produktion, der Bildung, der Gesellschaft und des Alltagslebens zu berücksichtigen. Indem sie Bildung und Kultur zusammen denkt, liefert sie u.a. kritische Analysen der Konstruktion des Kultur-Natur-Dualismus und fragt, wie ökologische Beziehungen unser Verständnis von Bildung mitgestalten. Sie fragt, wie Wissen kulturell produziert und vermittelt wird, unter welchen gesellschaftlichen und technologischen Rahmenbedingungen dies geschieht und welche gesellschaftliche Logik und pädagogischen Grundsätze sich daraus ergeben.
Studies in the History of Education and Culture Studien zur Bildungs- und Kulturgeschichte will den Dialog und die Debatte über die komplexen Zusammenhänge von Bildung und Kultur anregen und weist dabei deutlich über die Geschichte von Bildungs- und Wohlfahrtssystemen hinaus. Studies in the History of Education and Culture Studien zur Bildungs- und Kulturgeschichte nimmt eine inter- und transdisziplinäre Perspektive ein und begrüßt Beiträge von internationalen Forscherinnen und Forschern aus allen Disziplinen. Die Buchserie ist peer-reviewed und zweisprachig.
About the Author: Carmen Flury and Michael Geiss, Zurich University of Teacher Education, Zurich, Switzerland.